Wümme-Zeitung (Weser-Kurier) Kolumne: Neues Leben. “Samer Tannous ist Hochschullehrer aus Damaskus, lebt mit seiner Familie seit 2015 in Rotenburg und arbeitet dort als Französischlehrer. In der Wümme-Zeitung schreibt er wöchentlich über seine Erlebnisse.”
Insgesamt sind 20 Kolumnen erschienen, alle zu unterschiedlichen Themen.
“Auf Nachfrage erläuterte [eine ehrenamtliche Flüchtlingshelferin], dass sie einmal eine Syrerin zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte. Dieses Treffen sei allerdings sehr merkwürdig verlaufen: Die syrische Frau kam, setzte sich an die Kaffeetafel und ihr wurde Kaffee und Kuchen angeboten. Sie nahm sich jedoch weder Kaffee noch Kuchen. Auf diese Weise war die Atmosphäre etwas frostig und nach 20 Minuten verabschiedete sich die Syrerin, ohne vom Kaffee oder Kuchen genommen zu haben.
Was war passiert? Als wir gemeinsam die Szene analysierten stellten wir fest, dass die deutsche Ehrenamtliche die Syrerin zwar dazu aufgefordert hatte, sich Kuchen zu nehmen, aber eben nur einmal, worauf die Syrerin zunächst höflich ablehnte. Eine Wiederholung dieses Angebotes folgte nicht, die Syrerin hatte schließlich „Nein Danke“ gesagt. Und in Deutschland heißt ein Nein eben Nein. Die enttäuschte Gastgeberin tat ihrem Gast auch nicht eigenständig ein Stück Kuchen auf den Teller; das wäre in Deutschland wohl übergriffig. Auf die Syrerin muss das gewirkt haben, als sei die Einladung nicht ernst gemeint gewesen, denn aus ihrer Heimat war sie es gewohnt, dass man ungefragt Kaffee eingeschenkt und Kuchen auf den Teller gelegt bekommt. Und auf eine anfängliche höfliche Verneinung des Gastes folgt dann immer ein Aufdrängen des Gastgebers, sich doch noch zu nehmen. Leere Teller gibt es in Syrien eigentlich nie.”
“Aber manchmal habe ich Angst vor den Kalendern der Deutschen. Sie machen das Leben zuweilen unnötig kompliziert: Auf einem Elternabend für meine Tochter schlug die Klassenlehrerin einen Ausflug mit Kindern und Eltern vor. Alle öffneten ihren Kalender, um einen Termin zu finden. Alle außer ich! Zwar besitze ich nach zweieinhalb Jahren in Deutschland auch einen Kalender, aber ich habe ihn nicht geöffnet. Irgendein passender Termin wird schon dabei sein. So kann ich mit meinen Terminen jonglieren, um auf einen netten Vorschlag wie diesen eine positive Antwort geben zu können.
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Die Araber sagen zu den Deutschen: „Ihr habt die Uhr und wir haben die Zeit“. Ich füge hinzu: Ihr habt Eure Kalender, wir haben die Flexibilität!”