Warum gehört die Mathematik zur Bildung? (Teil 8)

Ziele des Mathematikunterrichts im Wandel der Zeit

In der Antike, in der es noch keine allgemeine Schulpflicht gab, bekamen die Schüler bis zum 16. Lebensjahr Elementarunterricht in Schreiben, Lesen, Logistik (Rechnen) und Musik, ab dem 5. Jahrhundert u.Z. auch in Geometrie.

Zwischen dem 16. und 20. Lebensjahr folgte der sogenannte enzyklopädische Unterricht in den sieben freien Künsten, eingeteilt in das Quadrivium (Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie) und das Trivium (Grammatik, Rhetorik, Philosophie/Dialektik).
Der Geometrieunterricht orientierte sich an Euklids “Elementen” und diente einerseits der formalen Bildung des Geistes und andererseits als Grundlage für die Astronomie. Im Gegensatz dazu diente der Mathematikunterricht bei den Römern nur der Beherrschung des Rechnens zu praktischen Zwecken.

Bis ins 12. Jahrhundert u.Z. war in Europa nur das praktische Abakus- oder Fingerrechnen verbreitet. An Kloster- und Kathedralschulen gab es höheren Unterricht, der sich an den “artes liberales” orientierte.

Der Klosterunterricht wurde zweigeteilt: Getrennt voneinander wurden zukünftige Mönche ausgebildet und andere auf weltliche Ämter im Staats- und Kirchendienst vorbereitet. Allmählich löste sich die weltliche Schulbildung räumlich von den Klöstern, stand aber weiterhin unter geistlicher Oberaufsicht. Die neuen Bildungsstätten hießen “studium generale” oder “universitas”. In dieser Zeit wurden die ersten Universitäten gegründet (in Paris, Bologna, Oxford und Cambridge). Diese mittelalterlichen Universitäten gliederten sich in vier Fakultäten: Nach der facultas artium (Unterricht in den sieben freien Künsten) wurde man für eine der drei höheren Fakultäten – Jura, Medizin oder Theologie – zugelassen. An einigen Universitäten gehörte Mathematik nicht zum Prüfungsstoff. Meist war nur eine Vorlesung über “sphaera” (kurze mathematische Erd- und Himmelskunde) vorgeschrieben.

Zur Zeit der Reformation wurde das höhere Schulwesen im heutigen Sinne begründet. Anfang des 16. Jahrhunderts gingen aufgrund der Verbreitung des Luthertums die Immatrikulationszahlen an den Universitäten zurück. Luther hatte sich zunächst gegen die Lehranstalten ausgesprochen, die ja dem Papst unterstanden, sah aber nach kurzer Zeit ein, dass die Wissenschaft für die Reformation von Bedeutung ist. Er betrachtete die Kenntnis der alten Sprachen als besonders wichtig und sprach sich für eine allgemeine Schulpflicht aus.

1525 wurde der Mathematikunterricht an der neuen deutschen Volksschule eingeführt. Das Unterrichtswesen wurde von Melanchton, einem Vertrauten Luthers, organisiert. Melanchton erachtete die Mathematik als die wichtigste Wissenschaft und wies auf die Bedeutung der Mathematik für Erdkunde, kaufmännisches Rechnen, Messung und die Herstellung von Kalendern hin; die Arithmetik eröffne den Weg zur Philosophie, während Geometrie Deduktion lehre.

Die Methodik des Mathematikunterrichts beruhte jedoch weiterhin auf der Aneignung reinen mechanischen Könnens und dem Auswendiglernen von Regeln.

Das Rechnen war bis zum 16. Jahrhundert der wichtigste Teil des Mathematikunterrichts, und erst im 17. Jahrhundert wurde Geometrieunterricht im heutigen Sinne eingeführt. Zu der Zeit nahm auch die Kritik an den Lateinschulen zu; die Betonung des Wissenskanons verschob sich von Sprachen und Rhetorik zugunsten der Mathematik und der Naturwissenschaften. Ferner trat eine neue Komponente hinzu: die Pädagogik.

Der Lehrplan für Mathematik von Comenius sah ein stufenweises Vorgehen durch sieben Klassen vor, wobei die Schwerpunkte in anschaulicher Geometrie und abstrakter Arithmetik lagen.

In der folgenden Zeit wurde der Mathematikunterricht wesentlich durch die Ideen August Franckes (1663-1727) beeinflusst. Er hob hervor, dass es wichtig sei, den Schülern das Verständnis der Mathematik nahezubringen, da alleiniges Auswendiglernen keinen Sinn hat.
Matthias Geser (1691-1761) nannte die Mathematik das “zweite Auge des menschlichen Geistes” und maß ihr eine Bedeutung unabhängig von praktischem Nutzen zu: die reine Mathematik sei ausreichend für die Schule, die mathematische Anwendung könne der Universität vorbehalten bleiben [Kaiser, Seite 295].

Die Mathematik bildete neben Griechisch und Latein die dritte Säule des Gymnasialunterrichts im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Ziel des Mathematikunterrichts war die Verstandesschulung; Anwendungen wurden weniger betont. Bis ins 19. Jahrhundert verstärkte sich weiter die Hinwendung zur reinen Mathematik.

Preußen richtete im Jahre 1787 das Oberschulkollegium ein, welches Edikte zu Anstellung der Lehrer und 1783 eine Abiturientenprüfungsverordnung erließ. Etwas später wurde das Oberschulkollegium durch eine eigene Abteilung des preußischen Innenministeriums ersetzt, und Wilhelm von Humboldt wurde an seine Spitze berufen.

Von Humboldt nannte als Grundlage für das gesamte Schulwesen das neuhumanistische Bildungsideal: “die allseitige harmonische Ausbildung sämtlicher Fähigkeiten des Körpers wie der Seele zu griechischer Kraft und Schönheit” [Kaiser, Seite 295-296].

Dem Mathematikunterricht in Preußen wurde ein größerer Wert beigemessen, nachdem die Siege Napoleons mit der guten mathematischen Ausbildung der Offiziere begründet worden waren. 1811 schrieb Scharnhorst: “Ich setze in das gründliche Studium der Mathematik einen sehr hohen Wert, ich betrachte dasselbe als die Grundlage aller feineren Geistesbildung und aller anderen Kenntnisse” [Kaiser, Seite 296]

Die nächste große Reform in der Gestaltung des Mathematikunterrichts fand gegen Ende des 19. Jahrhunderts statt: Mathematik war nicht mehr (nur) für das Militärwesen wichtig, sondern für die fortschreitende Entwicklung von Wirtschaft und Technik. Prominentester Vertreter der Reformkommission war Felix Klein (1848-1925). Die Kommission legte 1905 die sogenannten “Meraner Vorschläge” vor, in denen das Lehrziel für Mathematik in drei Teile gegliedert wurde: Der Unterricht sollte den wissenschaftlichen Überblick über die Gliederung des Lehrstoffes geben, die Fähigkeiten für die Durchführung von Einzelaufgaben fördern und ferner dem Schüler Einsicht in die Bedeutung der Mathematik für die exakte Naturkenntnis und die moderne Kultur geben. Als fächerübergreifende Ziele erachtete man die Förderung des Anschauungsvermögens, die Entwicklung der Fähigkeit zu logischem Denken und die Erziehung zur Objektivität und Kritikfähigkeit als wichtig.


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