Warum gehört die Mathematik zur Bildung? (Teil 10)

Die Bedeutung der Mathematik für andere Wissenschaften

Die Verbindung zwischen Mathematik und einigen Fächern soll in den folgenden Abschnitten näher betrachtet werden. Ihre Bedeutung für die Naturwissenschaften ist unbestritten sehr groß; da dieser Zusammenhang jedoch nicht Hauptgegenstand der Arbeit ist, wurde der Abschnitt zu Naturwissenschaften und Informatik bewusst kurz gehalten.

Anschließend wird die Bedeutung der Mathematik für die Philosophie, die Religion und das Verständnis der Welt beleuchtet. Die Abschnitte über Philosophie und Religion orientieren sich an Radbruch [Radbruch, Seite 135-159 bzw. 69-88].

Mathematik in den Naturwissenschaften und der Informatik

Sir James Jeans hat einmal gesagt: “Alle Bilder, welche die Wissenschaft heute von der Natur zeichnet – und nur diese scheinen mit den beobachteten Tatsachen übereinzustimmen -, sind mathematische Bilder.” (“The essential fact is that all the pictures which science now draws of nature, and which alone seem capable of according with observational facts, are mathematical pictures.” [Quelle])

Die Rolle, welche die Mathematik in verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften spielt, ist sehr vielseitig und reicht vom einfachen Werkzeug bis zur hochkomplexen mathematische Theorie. Dies soll anhand einiger Beispiele deutlich gemacht werden.

Differentialgleichungen

Differentialgleichungen sind Gleichungen, die statt einer Variablen eine Funktion von einer oder mehreren Veränderlichen und ihre Ableitungen enthalten. Sie werden in verschiedenen Naturwissenschaften benutzt. Bekannte Beispiele sind die radioaktive Zerfallsgleichung oder die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik.

Quantentheorie

Das Verhalten mikrophysikalischer Teilchen oder Teilchensystemen beschreibt man mit Hilfe der Quantenmechanik, die den Dualismus von Teilchen und Welle miteinander verbindet. Es fällt schwer, diesen Bereich der Physik ohne die Hilfe der Mathematik darzustellen. Erstaunlicherweise entwickelten zwei Physiker die Quantenmechanik unabhängig voneinander und beinahe gleichzeitig. Zuerst schien es, als hätten Werner Heisenberg (1901-1976) und Erwin Schrödinger (1887-1961) zwei völlig verschiedene mathematische Darstellungen der Quantenmechanik gefunden (nämlich Heisenberg 1925 die Matrizenmechanik und Schrödinger ein Jahr später die Wellenmechanik), doch es gelang nachzuweisen, dass beide mathematisch äquivalent sind.

Es ist möglich, die gesamte Quantenmechanik deduktiv abzuleiten, wie in der Mathematik üblich, und dies führte auch zum experimentellen Nachweis einiger neuer Phänomene, welche die Quantenmechanik voraussagte, was in der Physik nicht ungewöhnlich ist. Die Teilchenphysik sagte z.B. in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Existenz von sechs unterschiedlichen Quarksfootnote{Quarks sind die nach heutigem Wissensstand elementarsten Teilchen, aus denen Protonen und Neutronen zusammengesetzt sind.} voraus. Lange Zeit konnten jedoch nur fünf experimentell nachgewiesen werden; das fehlende fand man erst 1995. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie nützlich die deduktive Methode der Mathematik auch in anderen Wissenschaften ist.

Kryptographie

Mit der Verbreitung des Internets und der darin angebotenen Dienste wie Online-Banking oder -Shopping trat das Problem auf, dass man Email-Nachrichten oder persönliche Daten von Kunden sicher übertragen können muss, um die Privatsphäre der Personen zu wahren und sie z.B. vor Kreditkartenmissbrauch zu schützen. Daher wurden seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit den Mitteln der Algebra etliche Kryptosysteme entwickelt.

Erwähnenswert ist das Public-Key-Kryptosystem RSA[10], bei dem mit verschiedenen Schlüsseln ver- und entschlüsselt wird, so dass der Austausch von geheimen Schlüsseln vermieden werden kann. Der Code zum Verschlüsseln ist öffentlich, aber nur mit einem geheimen Schlüssel kann man das Verschlüsselte wieder entziffern. Umgekehrt dient dasselbe System der Authentisierung von Nachrichten, indem der geheime Schlüssel die Rolle der Unterschrift übernimmt, die von jedem mit Hilfe des öffentlichen Schlüssels verifiziert werden kann. Das Kryptosystem beruht auf dem Problem der Algebra, dass es nahezu unmöglich ist, Produkte sehr großer Primzahlen wieder zu faktorisieren, d.h. zu zerlegen.



[10] benannt nach den Erfindern Rivest, Shamir, Adleman


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