Warum gehört die Mathematik zur Bildung? (Teil 13)

Mathematik und Religion

“Die natürlichen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.” (Kronecker, zitiert in [Ehlers, Seite 63])

Die Frage danach, was an der Mathematik “gottgegeben” und was vom Menschen erfunden ist – und damit auch die Frage, ob Mathematiker Neues entdecken oder erfinden – ist einer der Berührpunkte von Religion und Mathematik, aber keineswegs der einzige. Zugleich stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen.


Die Pythagoreer

In der klassischen Antike trat zum ersten Mal die Frage nach dem Bauplan der Welt auf. Vorher hatte man immer nach dem Anfang und der Entwicklung der Welt gefragt, und die Mathematik als solche gab es noch nicht, sondern nur praktisches Rechnen. Die Griechen waren also die ersten, die überhaupt die Möglichkeit hatten, mit Hilfe der Mathematik die religiöse Frage zu beantworten.

Die Pythagoreer hielten die Mathematik für die Wissenschaft, die am besten geeignet sei, die Frage nach der Struktur der Welt zu beantworten; für sie war also die Beschäftigung mit der Mathematik zugleich Gottesdienst. Radbruch formuliert: “Für die Pythagoreer erschließt sich dem Menschen das Göttliche nur auf mathematischem Weg. Bei ihnen hat die Welt einen mathematischen Bauplan: das Sein ist nach geometrischem Raster strukturiert, alles in der Welt ist nach Zahl und Maß geordnet.” [Radbruch, Seite 70]

Für die Pythagoreer beruhte also alles in der Welt auf natürlichen Zahlen und Verhältnissen von natürlichen Zahlen. Die Entdeckung, dass z.B. die Länge der Diagonalen eines Quadrates der Seitenlänge 1 keine rationale Zahl ist, stellte sie vor ein unlösbares Problem. Durch die Entdeckung eines mathematischen Sachverhalts mussten sie also ihr gesamtes religiöses Weltbild verändern.


Thomas von Aquin

Gottesbeweise mit dem Argument, dass Gott das sei, dem gegenüber man nichts größeres benennen könnte, wie sie z.B. Augustinus (354-430 u.Z.) führte, waren für Thomas von Aquin (1225-1274) nicht akzeptabel. Einzig ein indirekter Beweis ist für ihn denkbar, in dem Gott die Ursache seiner sichtbaren Wirkungen ist.

Radbruch zitiert einen Gottesbeweis Aquins in der Übersetzung von Bernhart[14]:

“Es ist nämlich gewiss…, dass manches in dieser Welt sich bewegt. Alles aber, was in Bewegung ist, wird von einem anderen bewegt… Es ist also unmöglich, dass etwas … in ein und derselben Weise bewegend und bewegt ist oder sich selbst bewegt. Alles also, was bewegt wird, braucht ein anderes, um bewegt zu werden. Falls also das, wovon es bewegt wird, sich bewegt, so braucht dies selbst ein anderes, um bewegt zu werden, und das wieder eins. Dabei kann man aber nicht ins Unendliche gehen, weil es dann kein Erstbewegendes gäbe und infolge davon nicht irgend eins, das ein anderes bewegte, weil die bewegenden Zweitheiten nur dadurch bewegen, dass sie von einem ersten Bewegenden bewegt sind …. Man muss also notwendigerweise zu einem Erstbewegenden hinkommen, das von keinem bewegt wird, und darunter verstehen alle Gott.” [Radbruch, Seite 77][15]

Man muss beim Lesen dieses Gottesbeweises berücksichtigen, dass er, wie andere Gottesbeweise auch, für Menschen geschrieben wurde, die schon an Gott glauben. Das Bekehren Nichtgläubiger war nie das Ziel von Gottesbeweisen.


Georg Cantor

Bei kaum einem der Mathematiker neuerer Zeit tritt das Verhältnis von Mathematik und Religion deutlicher zutage als bei Georg Cantor (1845-1918). Er war ein sehr religiöser Mensch, und er zog aus seiner mathematischen Forschung Konsequenzen für seinen Glauben.

Cantors Verständnis von Mathematik geht auf Augustinus zurück, der sich wiederum auf Platon berief, für den die Mathematik nicht von den Menschen erfunden, sondern entdeckt wurde. Diesen Gedanken hatte schon Augustinus von Platon übernommen. Augustinus fügte dem die religiöse Komponente hinzu, dass die mathematischen Tatsachen von Gott gegeben sind und somit zur Schöpfung gehören. Für Cantor ist die Mathematik demzufolge eine Annäherung an Gott.

Cantor empfand seine mathematischen Erkenntnisse als einen neuen Einblick in Gottes Schöpfung und war darauf bedacht, das Gespräch mit der Kirche zu suchen. Daher unterhielt er Kontakt zu einigen kirchlichen Würdenträgern und bemühte sich, ihnen seine Theorie des Transfiniten[16] klarzumachen. Cantor schreibt an Pater Thomas Esser: “Von mir wird der christlichen Philosophie zum ersten Mal die wahre Lehre vom Unendlichen in ihren Anfängen dargeboten.” [Radbruch, Seite 88] [17]


[14] Das von Bernhart benutzte “wegen” statt “bewegen” wurde zum besseren Verständnisses in “bewegen” geändert.

[15] zitiert nach: Thomas von Aquin: Summe der Theologie, 1. Band: Gott und die Schöpfung. Stuttgart 1985.

[16] Ein Beispiel für das Transfinite ist das Cantorsche Diskontinuum, auch Cantorsche Wischmenge genannt. Sie entsteht, indem man aus einer gegebenen Gerade das mittlere Drittel (als offene Strecke) auswischt. Mit den beiden so entstandenen Geraden verfährt man ebenso, und durch wiederholtes Auswischen des mittleren Drittels erhält man das Diskontinuum. Die Länge der ausgewischten Stücke ist zusammen so lang wie die Ausgangsgerade, aber die Grenzmenge der übriggebliebenen Stücke ist überabzählbar, d.h. von derselben Mächtigkeit wie die Ausgangsgerade.

[17] Zitiert nach: Meschkowski, H.: Aus den Briefbüchern Georg Cantors. Archive for History of Exact Science, Bd.2 (1965), Seite 503-518.


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