Warum gehört die Mathematik zur Bildung? (Teil 11)

Mathematik und Philosophie

“Durch Kontakt oder Konfrontation mit Philosophie wird jede Wissenschaft zwangsläufig auf ihre Grundlagen, ihre Begründung verwiesen” [Radbruch, Seite 135]. Die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten von Philosophie und Mathematik sind außerordentlich vielfältig, so dass hier nur einige Beispiele aufgezeigt werden können.

Bei Platon gehören beide Wissenschaften deutlicher als bei jedem anderen zusammen, daher wird er am ausführlichsten behandelt. Es folgen Kant und Schopenhauer, die jeweils die eine Wissenschaft benutzten, um die andere neu zu ordnen.

Platon

Im Denken Platons sind Philosophie und Mathematik gleichberechtigte Partner; dies zeichnet ihn gegenüber allen anderen Philosophen und Mathematikern aus. Für ihn gehören Sein, Erkennen und Wahrheit zusammen (“Denn dasselbe ist Erkennen und Sein.”; “Wahrheit [gibt es] nur in Hinblick auf das unwandelbare Sein” [Radbruch, Seite 136]. Platon versucht nun, die Geometrie, die von Thales begründet wurde, dazu in ein Verhältnis zu setzen.

In der Geometrie gibt es Sätze wie “Der Kreis wird durch den Durchmesser halbiert” [Radbruch, Seite 136-137], und durch den Beweis wird der Satz zu einer wahren Aussage. Die schwierigere Frage ist jedoch, wovon der Satz handelt, zumal jeder gezeichnete Kreis nicht als unwandelbar angesehen werden kann, andererseits jedoch Wahrheit nur in Verbindung mit Unwandelbarkeit existieren kann.

Platon löst dieses Problem, indem er den Kreis durch die Idee des Kreises ersetzt. Unter dieser Idee ist ein idealer, perfekter Kreis zu verstehen, von dem alle gezeichneten Kreise nur unperfekte Abbilder sind. Die Idee des Kreises ist unwandelbar, und damit können die Sätze der Geometrie nach Platon als wahre Aussagen anerkannt werden, da sie sich auf Unwandelbares beziehen. Platon vollzieht damit einen weiteren Schritt der Abstraktion: Die Sätze der Geometrie sind theoretischer Natur, und Platon führt den theoretischen Gegenstand ein.
Der Zusammenhang der Ideenwelt und der realen Welt besteht also darin, dass alle realen Gegenstände Abbilder von Ideen dieser Dinge sind. Die Sätze der Geometrie sind wahr in Bezug auf ideale Gegenstände, aber da die wirklichen Dinge Abbilder derselben sind, gelten die Sätze auch in der Realität.

Das Verhältnis von Idee und wirklichen Abbildern gilt nicht nur für die Geometrie, sondern in allen Bereichen. Platon übertrug seine Ideenlehre auch auf die Tugenden, Ethik, Ästhetik und andere Gebiete.

Platon hebt den Unterschied hervor, der im Umgang mit mathematischen Ideen zwischen dem Mathematiker und dem Dialektiker[11] bestehen. Für den Mathematiker bedürfen die Voraussetzungen, auf die er seine Sätze aufbaut, keiner Begründung, aber der Dialektiker muss die Voraussetzungen analysieren, bis er bei Ideen anlangt, die als wahre Voraussetzungen gelten dürfen. Die Dialektik liefert somit die philosophische Grundlage der Wissenschaft.

Radbruch urteilt: “Eine ähnlich überzeugende Realisierung der Interdependenz von Mathematik und Philosophie ist seither noch nicht wieder gelungen.” [Radbruch, Seite 142]


[11] Platon versteht unter Dialektik die Methode, vorgetragene Meinungen im Gespräch auf ihre Gründe hin zu prüfen. Der Philosoph geht dabei zunächst auf die falsche Position ein und überzeugt den Vertreter der Position durch Aufdecken von Widersprüchen von der Falschheit der Behauptung. [Duden, Dialektik]


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